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"Aus den Ruinen auferstanden": Senf contra MICHEL

Leipzig lag seit Kriegsende in Ruinen, der „Verlag des Schwaneberger Albums Eugen Berlin“ ebenfalls in Schutt und Asche und nahezu alle Bestände der Redaktion waren vernichtet worden. Charlotte Naumann, seit 1945 die von Eugen Berlin ernannte Verlagsleiterin am Leipziger Sitz, gab später wörtlich an, dass sämtliche Bestände verloren gegangen waren. In einer Aktennotiz dazu heißt es: „Es verbrannten sämtliche Warenbestände (Wert ca. 50 000 M.) In der Druckerei wurde der Stehsatz des Michel-Kataloges und der Schwaneberger Alben vernichtet, in den Buchbindereien verbrannten Warenbestände, Papierbestände wurden vernichtet usw.“ Andererseits sagte sie nachfolgend auch: „Der größte Teil der Klischees konnte gerettet werden, da Herr Berlin dieselben noch rechtzeitig nach Bayern verlagert hatte.“

Bayern? Dort hatte sich Eugen Berlin zu Kriegsende ein neues Domizil als Alterssitz gesucht, genauer gesagt in Kasendorf (Oberfranken), wo er dann 1946 einen Zweigbetrieb anmeldete, der sich später eher als „Exil“, letztlich aber als neuer Sitz des Verlages entpuppen sollte. In einer „Nacht-und-Nebel-Aktion“, so die Fama, war es ihm gelungen, die Bestände der Druckklischees für die Alben und Kataloge von Ost nach West zu schaffen.
Nach dem Krieg fanden alle Verlage eine neue Situation vor: die Firma der Gebr. Senf, der Verlag des Schaubek-Albums von C. F. Lücke sowie der Schwaneberger Verlag von Eugen Berlin. 1945/46 hatte die Politik der Siegermächte das Sagen, an Produktion war in einem neuen Umfeld sowjetischer Administration kaum zu denken. 1946 war noch einmal ein MICHEL-Neuheiten-Verzeichnis, eine Art Zwischenkatalog, für die Jahre 1944/46 mit 76 Seiten Umfang erschienen. Das war aber auch schon alles.

Michel1.2-02-10MICHEL Europa. Briefmarken-Neuheiten 1944/46. Mit diesem broschierten Nachtrag (12,5 x 18cm, 76 Seiten) meldete sich Eugen Berlin im September 1946 erstmals wieder zu Wort.

Eugen Berlin hatte das Vorwort zu diesem Nachtragskatalog im September 1946 gezeichnet. Er sprach davon, dass sich der „vorliegende Michel ... an den durch die monatlichen Nachträge ergänzten Michel-Europa-Katalog 1943 als auch an den 1. Teil des Michel-Europa-Kataloges 1944/45“ anschließe. Dieser Band solle damit also ein ausführlicheres Bild der philatelistischen Ereignisse der letzten Jahre bieten.

Es sollte bis 1947 dauern, dass erste Bemühungen der Verlage, erneut mit umfangreicheren Produkten auf den Markt zu kommen, wahrgenommen wurden. Dabei ergab sich aber eine überraschende Situation, denn die Landesregierung von Sachsen gedachte offenbar, der Sowjetischen Militäradministration vorzuschlagen, dass die drei bisherigen Produktlinien – Kataloge, Alben, Zeitschriften – künftig nicht mehr von jedem oder mehreren der drei Verlage geführt werden dürften, sondern jeder Verlag sich nur auf ein Produkt (wahlweise Fachzeitschrift, Alben oder Katalog) zu konzentrieren hatte. Dahinter steckte wohl die Überlegung, dass durch Konzentration auf Einzelprodukte durch einen Verlag, die Vielfalt der Presse besser zu kontrollieren, vielleicht auch langfristig zu ermöglichen sei, waren doch Papierbeschaffungsprobleme zu dieser Zeit schier unüberwindbar.

Verständlich, dass sich zu diesem geforderten Einschnitt – oder sollte man richtiger sagen: zu diesem publizistischen „Kahlschlag“? – keiner der namhaften drei Verlage bereit erklären wollte. Man einigte sich 1948 nur auf die Gründung einer Arbeitsgemeinschaft, der nun vier Firmen (mit dabei nun auch KA-BE) angehören sollten. Gedacht war angeblich an ein abgestimmtes Produktionsprogramm. Kurz zuvor, im Februar 1948, erschien in Leipzig wieder ein erster MICHEL-Europa-Katalog, allerdings in einzelnen Lieferungen. Verantwortet hatten diesen die Firma Gebr. Senf respektive deren damalige Inhaberin Gertrud verw. Neubauer, offiziell auch der Verlag des Schwaneberger-Albums Eugen Berlin, der ab Ende 1949 „in Treuhandverwaltung“ stand. Diese erste Lieferung des erwähnten MICHEL-Kataloges umfasste 80 Seiten und ist als „MICHEL-OST“ unter Sammlern bekannt. Die XX. und letzte Lieferung erschien im Juli/August 1950, also knapp vor dem ersten Lipsia-Katalog vom August/September 1950.

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MICHEL Europa (1948), erschienen in Leipzig in einzelnen Lieferungen, die auch – wie die Abbildung belegt – als Teilbände in gebundener Form Verbreitung fanden. Das Werk wurde als „MICHEL-Ost“ bekannt.

1948 erschien ebenfalls ein von der Firma „Gebrüder Senf“ herausgegebener Altdeutschland-Katalog in einzelnen Lieferungen (insgesamt 48 Seiten), die es auch in dieser broschierten Form gibt. Senf – Schwaneberger: Das war immer noch ein Konkurrenzverhältnis.

An wirklicher Zusammenarbeit waren allerdings weder die Firma der Gebr. Senf, damals nach dem Tode ihres Mannes Heinrich Neubauers 1945 nun von dessen Frau Gertrud geleitet, noch Eugen Berlin und sein Verlag des Schwaneberger Album interessiert. Eugen Berlin hatte längst nach Verlauf der administrativen Direktiv- und Planabsichten, die auf eine Verstaatlichung privater Unternehmen hinausliefen, die Möglichkeiten einer Verlagsverlagerung in den Westen geprüft und sich für diesen Schritt entschieden, zumal er sich mit den Vertretern der Firmen Senf und Schaubek nicht auf die Ausgabe nur eines noch zugelassenen Katalogwerkes einigen konnte und wollte. Wenn schon bei nahe Null neu anfangen, dann dachte er, dies auch im Westen tun zu können.


1949 erschien damit in Kasendorf der erste „MICHEL-Europa-Katalog“ im blauen Leineneinband, der immerhin 1080 Seiten hatte. Was Eugen Berlin damals nicht erwähnte, waren die Macher dieses Kataloges. Er hatte ja sein Team aus Leipzig nicht mitnehmen können, die wenigen verbliebenen Mitarbeiter wollten dort bleiben. Er brauchte also neue Fachleute. Diese fand er in Hermann Ernst Sieger als Chefredakteur des neuen Kataloges, sekundiert von dessen damals knapp 20 Jahre alten Sohn Hermann Walter, dem besonders der Deutschland-Teil am Herzen lag. Zu den Katalogen ab 1949 erschienen auch wieder die von früher bekannten Katalognachträge.

thumb Michel4.2-02-10thumb Michel5.2-02-10thumb Michel6.2-02-10Der erste MICHEL-Europa-Katalog (West) erschien in blauem Leineneinband 1949 mit 1080 Seiten (Format 15 x 21,5 cm).

Zu dem MICHEL-Europa-West erschienen ab 1949 auch wieder „MICHEL-NACHTRÄGE“ (hier Nr. 3 vom Aug. 1949).
 
Eine Auskoppelung des Europa-Kataloges, nämlich der MICHEL-Briefmarken-Katalog 1949 Deutschland, erschien im gleichen Format mit einer Paginierung von Seite 128 bis 799 aus dem Europa-Katalog in broschierter Form. Der Katalog war ohne Vorwort, wurde wie der vorhergehende ebenso bei Carl Gerber in München gedruckt. Hermann Walter Sieger nannte diesen Katalog „sein Kind“. Es war allerdings noch kein Deutschland-Spezialkatalog. Deshalb erhielt die Auflage 1950 die zusätzliche Bezeichnung „Sonder-Katalog“. 1949 wurde nur vermerkt: „Auszug aus dem Michel-Europa-Katalog 1949“.

Aus beiden MICHEL-Europa-Katalogen (1949 und 1950) wurde der Deutschlandteil ausgekoppelt und in broschierter Form angeboten. Die abgebildete Ausgabe von 1950 hatte eine eigenständige Seitenzählung, die mit Seite 1 begann.
 
Schon im November 1949 verfasste Eugen Berlin das Vorwort für den MICHEL-Europa-Katalog 1950. Er blickte auf „40 Jahre MICHEL-KATALOGE“ zurück und betitelte die Neuausgabe deshalb auch als Jubiläumsausgabe. Zum wiederholten Mal betonte er, wie schon Hugo Michel in früher Zeit: „Der Michel-Katalog stellt weder eine Händlerpreisliste dar, noch ist er von irgendwelchen Interessen getragen, sondern er bemüht sich, die Preise an Hand der internationalen Marktlage dem Philatelisten darzubieten.“

Im Oktober 1949 erkrankte Eugen Berlin schwer und erholte sich von dieser Krankheit nicht mehr dauerhaft. Im August 1950 wechselte Berlin mit seinem Schwaneberger Verlag nach München in die Angertorstraße 2 und verkaufte seinen Verlag an die Münchner Druckerei Carl Gerber, die schon die Ausgaben von 1949 und 1950 gedruckt hatten. Dort übernahm der damalige Gesellschafter der Druckerei Carl Gerber, Dr. Hans Hohenester, als Geschäftsführer die Leitung des neuen Verlags, der aber bis 1970 weiterhin „Verlag des Schwaneberger Albums Eugen Berlin“ hieß. Neuer Chefredakteur wurde Martin Reith, unterstützt vom Redakteur Carl Hamecher, der 1951/52 für den ersten Nachkriegs-Übersee-Katalog verantwortlich zeichnete. Eugen Berlin selbst erlebte das Erscheinen des neuen 1094-Seiten-starken Übersee-Kataloges nicht mehr. Er starb am 14. Januar 1951 in Hechendorf/Bayern. Sein Tod verhinderte aufgrund der rechtlich notwendigen Verlagsabwicklung und der Neuerstellung des Manuskripts das eigentlich noch für 1950 angekündigte Erscheinen des Übersee-Katalogs. Reith und Hamecher gelang es aber trotz aller Schwierigkeiten im Oktober 1951, also mit fast einjähriger Verspätung, das Werk – seit zehn Jahren erstmals wieder ein deutscher Übersee-Katalog – fertigzustellen (Band 1 erschien im November 1951, Band 2 im April 1952), der natürlich auch wieder in der Carl Gerber-Druckerei produziert wurde.

thumb Michel7.2-02-10Ende 1951 erschien erstmals seit vielen Jahren ein neuer MICHEL-Übersee-Katalog, nunmehr in zwei Bänden und in München von der Carl Gerber Druckerei und Verlag herausgegeben. 

Mit Berlins Tod ging die zweite große Ära der MICHEL-Kataloge zu Ende. Die neue Ära Gerber/Hohenester nahm ihren Anfang. So erlebte Eugen Berlin nicht mehr, wie sein 1953 in Leipzig C 1, Markgrafenstr. 2, Schlossgasse 5, ansässiger Verlag des Schwaneberger Album mit Urteil des Kreisgerichtes Stadtbezirk 8 vom 13. März 1953 in Konkurs ging und dessen Vermögen eingezogen wurde. Damit war der alte „Verlag des Schwaneberger Album, Inhaber Eugen Berlin“, nur noch Geschichte.

Der Senf-Familie erging es nicht besser: Nach Heinrich Neubauers Tod (dieser starb an einer Blinddarmentzündung) wurde Gertrud Senf 1945 selbst Inhaberin. Die Büroräume befanden sich zuerst (ab September 1946 bis ca. 1949) nahe dem Hauptbahnhof am Tröndlinring 3, danach in Leipzig C 1., Nordplatz 2; das Ladengeschäft weiterhin im Barfußgässchen am Markt. Gertrud Neubauer starb 1963. Nach ihrem Tod wurde das Familienunternehmen von einem Geschäftsführer geleitet, während ihre Söhne Hans Neubauer und Gottfried Richard Gerhard Neubauer nominell (Mit-)Inhaber blieben.

Die politischen Verhältnisse und wirtschaftlichen Schwierigkeiten jener Jahre ließen es nicht zu, dass die Firma der Gebr. Senf jemals wieder als eigenständiges Unternehmen auf die Beine kam. Das „Illustrierte Briefmarken-Journal“ – 1943 zwangsweise von den damaligen Machthabern mit allen anderen Fachzeitschriften zur Einstellung gezwungen – durfte nicht weitergeführt werden. So setzte sich im Osten Deutschlands ab 1948 der „sammler express“ durch. Vergleichbares galt für die Senf-Kataloge, die 1950 – ebenso wie der vormalige MICHEL-Katalog – in den LIPSIA-Katalog auf- und übergingen.

Die Philatelie, gerade auch der philatelistische Handel, wurde in der DDR spätestens ab Ende der 60er-Jahre vereinheitlicht, bis hin zu Namen von Vereinen und Geschäften. Die Erben der „Gebrüder Senf“, die Brüder Hans Neubauer-Senf und Gerhard Neubauer, führten ein von dem älteren Bruder Hans geleitetes Briefmarken-Versandgeschäft in Nürtingen/Neckar. Das eigentliche Leipziger Stammgeschäft fiel nach der Wende an den jüngeren damals noch lebenden Bruder Gerhard Neubauer zurück, der es bis 2008 durch einen Angestellten verwalten ließ. Dann wurde das Traditionsgeschäft am Barfußgässchen endgültig geschlossen. Die Tradition eines Weltunternehmens, das einmal in alle Kontinente den Namen deutscher Philatelie ausgestrahlt hatte, hatte damit dann endgültig seinen Schlusspunkt erreicht.

Der „König“ war tot (im ersten Teil „Goliat“ genannt), „es lebe der König“ – dies war „David“, der sich nun daran machte, dem „Königstitel“ weiterhin gerecht zu werden.