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"Von Null auf Hundert": Die Münchner Zeit

Die Münchner Zeit1950 fing der nunmehr an die Druckerei von Carl Gerber übergegangene „Verlag des Schwaneberger Album Eugen Berlin“ zwar nicht bei Null an, musste aber dennoch neu beginnen. Zwar hatten schon Hermann Ernst Sieger und dessen Sohn Walter neben den ersten beiden neuen Europa-Katalogen auch das Manuskript des für Ende 1950 angekündigten neuen zweibändigen Übersee-Kataloges erarbeitet. Aber da die Firma Sieger nicht den Verlag Eugen Berlins übernehmen konnte, sahen sie sich nicht in der Pflicht, dem neuen – aus ihrer Sicht fachfremden – Verlag ihre Arbeit zu überlassen. Das Manuskript wurde vernichtet, in München hieß es für Dr. Hans Hohenester neu anfangen.Dank Martin Reith, unterstützt von Redakteur Carl Hamecher, gelang dies. Zwar brauchte man mehr als ein Jahr, um dann endlich – nach 10 Jahren – erstmals einen neuen zweibändigen Übersee-Katalog erscheinen zu lassen, dann aber ging es Schlag auf Schlag. Die MICHEL-Nachträge zum Katalog (Vorläufer der späteren „MICHEL-Rundschau“) erschien regelmäßig und wurde ab der Nr. 2/1951 redaktionell deutlich erweitert, indem nicht nur einseitige Katalog-Nachtragsseiten aufgenommen wurden, sondern die linken Vakat-Seiten, also bislang leer gebliebene Seiten, nunmehr auch mit interessanten und abwechslungsreichen Meldungen und Kurzbeiträgen gefüllt wurden.

Der seit 1948 noch in Leipzig in Lieferungen erscheinende „MICHEL-Ost“ wurde auch – allerdings mit argen Verzögerungen – im Westen vertrieben.

thumb MICHEL1.3-04-10Das „Schwaneberger Album“ war 1948 auf längere Zeit nicht mehr lieferbar. Den Grund kann man diesem Schreiben vom 1. Oktober 1948 entnehmen: die Albenvorräte waren bei der Bombardierung Leipzigs verbrannt.

Erstmals wurde auch wieder das „Schwaneberger Deutschland-Album“ in neuer Ausgabe (1952) angekündigt: 26 Mark kostete die Halbleinen-, 28 Mark die Ganzleinen-Ausgabe. 1953 erschien das Album mit auf 324 Seiten erweitertem Umfang, kostete nun aber auch 38 (Schraubenbinder) resp. 42 DM (Klemmbinder).

Ethumb MICHEL2.3-04-10s enthielt zu dieser Zeit 5650 Markenfelder und 1900 Abbildungen. Im August 1954 erschien im MICHEL-Nachtrag Nr. 8 eine Anzeige, der aus heutiger Sicht Bedeutung zuzumessen ist: „Unser Chefredakteur braucht einen weiteren Mitarbeiter“ stand zu lesen und es wurde eine „vielseitige interessante Tätigkeit und bei Eignung zukunftsreiche Dauerstellung“ in Aussicht gestellt. Die Anforderungen waren beileibe nicht gering: Fähigkeiten im Bereich der selbstständigen Katalogarbeit, zur Erledigung umfangreicher internationaler Korrespondenz, ein „universelles Fachwissen“, die „Beherrschung der Weltkatalogliteratur“, aber auch ein „flüssiger, neuzeitlicher Briefstil sowie Fertigkeiten in Steno und Maschinenschreiben“ waren erforderlich, Sprachkenntnisse erwünscht. Arbeitsfreude und ein überdurchschnittliches Leistungsniveau wurden per se vorausgesetzt. Den Folgeausgaben des Jahres 1954 war nichts weiteres zu entnehmen, wohl aber ist bekannt, wer diesen Posten schließlich erhielt: Gerhard Webersinke.

thumb MICHEL3.3-04-10„Kein Briefmarken-Sammler ohne Michel-Katalog“, so lautete der Slogan dieses Freistempels vom 1. April 1953. 

1955 trat der Sohn Dr. Hans Hohenesters, Hans Hohenester, in die Firma ein. Dieser wurde 1963 Geschäftsführer des Gerber-Verlags und schloss diese Tätigkeit für den Gerber Verlag bis zur Beendigung von dessen Druckereigeschäften 1996 mit weiterer Beratertätigkeit im Schwaneberger Verlag ab. 2001 hatte wiederum dessen Sohn Hans W. Hohenester, der Enkel Dr. Hans Hohenesters, die Geschäftsführung des Schwaneberger Verlag übernommen.

1956 wurde – nach Martin Reith, der kurz nach seinem 50. Berufsjubiläum verstorben war – Gerhard Webersinke Chefredakteur. Der bis 1993, also 34 Jahre amtierende, heute noch lebende Berufsphilatelist wurde zur Legende, an die sich viele Leser sicherlich noch gut erinnern. Viele neue Kataloge, besonders die neu eingeführten Deutschland-Spezial-Kataloge, verraten seine Handschrift. Er und Hans Hohenester sen. waren ohne Zweifel ein kongeniales, wenn auch nicht immer reibungslos harmonierendes Gespann, das aber gerade aus der Verschiedenheit der Charaktere stets Ansporn zu neuen Taten und Ideen zog.

1963 hatte Hans Hohenester das „Erbe“ seines Vaters, die Geschäftsführung des Gerber-Verlages übernommen. 1968 bezog man einen Neubau in München-Freimann, der bis vor fünf Jahren das Domizil der Firma bleiben sollte, die seitdem ihren neuen Platz in Unterschleißheim bei München gefunden hat. [Stand: 2010. 2019 ist der Verlag dann nach Germering im Westen Münchens umgezogen]

1970 kam es zu einer weiteren Umstrukturierung. Dr. Adolf Gerber übernahm die Carl Gerber Grafische Betriebe GmbH, gliederte die Satzabteilung in eine neue Fertigsatz GmbH aus, während zeitgleich Hans Hohenester als Geschäftsführer des Gerber-Verlages auch die Geschäftsführung des Verlages des Schwaneberger Album Eugen Berlin GmbH übernahm. Hohenesters erstes Ziel war eine Neufirmierung für Eugen Berlins früheren Verlag, der fortan „Schwaneberger Verlag GmbH“ lauten sollte, wie er allen Sammlern heute bestens bekannt ist.

 thumb MICHEL4.3-04-10Bis 1970 hieß der Verlag noch nach dem jahrzehntelangen früheren Inhaber „Verlag des Schwaneberger Album Eugen Berlin GmbH“ (Geschäftsdrucksache vom 26. August 1957). 

Viele neue Produkte erblickten in den 1970er-Jahren erstmals das Licht der Welt. So z.B. der MICHEL-Ganzsachen-Katalog Deutschland (1972), das MICHEL-Exklusiv-Album (1973) – es hieß nun nicht mehr „Schwaneberger Sammelbuch“ – der Katalog MICHEL-Europa-Gemeinschaftsausgaben (1973), das MICHEL-Handbuch Kolonialvorläufer (1973), der MICHEL-Junior-Deutschland-Katalog (1974), das MICHEL-Sammler-ABC (1974) und der MICHEL-Handbuch-Katalog Deutsche Feldpost (1976), die Kataloge MICHEL-Österreich Spezial (1977), Privatganzsachen Deutschland (1978), Ganzsachen Europa (1978), Schweiz/Liechtenstein Spezial (1979), CEPT/UNO (1979), der beliebte MICHEL-Briefe-Katalog (1980) und der erste MICHEL-USA-Spezial (1980).

Hans Hohenester sen. und Gerhard Webersinke hatten das Glück, dass ihre aktive Phase durch Kontinuität, aber auch generell gesellschaftliche und wirtschaftliche Prosperität gekennzeichnet waren. Allerdings hatte Hohenester – er war gelernter Drucker – damals auch besondere Probleme zu schultern, denn auch schon in den 1970er-Jahren veränderten sich infolge des technischen Fortschritts die Produktionsmöglichkeiten. So waren von 1971 bis 1974 rund 10 000 Katalogseiten neu zu setzen, da es galt, den veralteten Bleisatz auf modernen Fotosatz umzustellen. Auch die Ausweitung der Katalogbände und der ständig wachsende Umfang einzelner Bände infolge der ungehemmten Neuheitenflut der Postverwaltungen war zu bewältigen. Schon Mitte der 1950er-Jahre hatte es drei Katalogbände gegeben: einen für Europa, zwei für Übersee. Daraus waren zehn Jahre später, 1965/66, schon drei Übersee-Bände geworden.

Um das Problem mit dem Europa-Katalog zu lösen, verzichtete man seit 1963 darauf, den Deutschlandteil auch im Europa-Katalog mit aufzuführen. Letztlich half dies nur für kurze Zeit, denn 1972 zählte Europa drei alphabetisch aufgeteilte Bände, die ein Jahr später zu zwei Bänden (Europa Ost und Europa West) zusammengeführt wurden.

Seit 1972 kam der Übersee-Katalog auf fünf Teilbände (der Band 5 „Asien“ hatte zwei Teile). Es sollte nicht die letzte Aufteilung bleiben, denn heute hat allein der Europakatalog sieben umfangreiche Bände, Übersee liegt wohl schon bei dem doppelten. Dafür verkauften sich damals die Kataloge, zumal der Deutschland-Katalog wie warme Semmeln. 1981 – auf dem Höhepunkt der Philatelie-Euphorie in Deutschland – wurden 320 000 Deutschland-Kataloge verkauft. Eine schier unglaubliche Zahl! Sie wurde aber auch seitdem niemals mehr erreicht.

thumb MICHEL5.3-04-10Die MICHEL-Redaktion um 1980 (v.l.n.r.): Oskar Klan (sitzend), Hans Hohenester, Gerhard Webersinke, Jochen Stenzke, Erich H. Slaby und (sitzend von hinten) Heinz Adler. 

Hans Hohenester sen. weiß noch eine nette Episode aus jener Zeit zu erzählen: „Als ich ungefähr 1971 von Herrn Wetzel (ich glaube, er hieß so) als Zuständigem für die Ganzsachensammler die Anregung erhielt, einen Ganzsachenkatalog Deutschland aufzulegen, haben wir nach meiner Zustimmung viele Einzelheiten wie Erstellung des Manuskriptes, Termine usw. zusammen geklärt. Auch über die Startauflage von 10 000 Exemplaren wurde gesprochen. Als ich dann kurz vor Druckbeginn Herrn Wetzel fragte, wie viele Ganzsachensammler organisiert seien, antwortete er mir: etwa 100. Mir wurde es dann schon ein bisschen komisch, aber Herr Wetzel meinte, dass viele Sammler von Ganzsachen nicht in Vereinen sind. Und wirklich: Die Auflage war in wenigen Tagen weg, wir mussten sogar 2000 Exemplare nachdrucken.“

Mag Hohenester damals der Umstieg von Blei- auf Fotosatz schon risikoreich genug erschienen sein, so ahnte er sicherlich damals noch nichts von den Folgen der Jahre später anstehenden Elektronisierung und Globalisierung der kommunikativen Welt. Diese sollte die Philatelie generell, den Schwaneberger Verlag speziell, nachhaltig verändern. Eine neue Phase des Auf- und Ausbaus kündigte sich an.