Der 30. Juni 1920 war nicht unbedingt ein schöner Tag, um in Bayern unterwegs zu sein, ein überwiegend regnerischer, grauer Mittwoch ohne Aussicht auf Sonne (zugegeben, wir haben das nicht selbst erlebt, sondern recherchiert) – dennoch haben sich sicher einige standhafte Philatelisten an diesem Tag auf den Weg zu ihren Postämtern gemacht, um ein postgeschichtlich hochinteressantes Ereignis zu dokumentieren.

Der 30. Juni war der letzte Tag, an dem noch Marken Altbayerns im Postverkehr verwendet werden konnten. Bereits am 1. April 1920 war die bayrische Posthoheit gegen eine (nie ausbezahlte) Entschädigungssumme von 620 Millionen Reichsmark auf das Deutsche Reich übergegangen, bayrische Markenbestände, die nicht schon vorher ihre Gültigkeit verloren hatten, konnten aber noch drei Monate lang aufgebraucht werden. Das waren die Ausgaben mit dem Portrait König Ludwigs III. mit und ohne Aufdrucken, die Staatswappen-Marke mit Aufdruck „20“ und natürlich die Abschiedsausgabe, die ein letztes Mal bayrisch-postalische Eigenständigkeit demonstrierte – der 2½-Mark-Wert im Steindruck mit dem Bild der Patrona Bavariae erschien trotzig nur zwei Tage vor Ende des Postregals.

Nun sollte man erwarten, ein vernünftiger Letzttagsbeleg trüge einen Tagesstempel mit entsprechendem Datum und Sitz des abstempelnden Postamtes. Doch das Sammelstück, das wir heute präsentieren dürfen, belehrt uns eines Besseren. Wenigstens ein bayrisches Postamt hatte sich zum Letzttag offensichtlich etwas Besonderes einfallen lassen: Der Beleg wurde mit einem aptierten Stempel der privaten Verbindungspost Grodno entwertet, der gut ein Jahr zuvor im von Polen übernommenen Postgebiet Oberbefehlshaber Ost zum Einsatz gekommen war. Hierzu wurden die Lettern „V“ und „P“ („Verbindungs-Post“) im oberen Teil des Kastenstempels entfernt, die Ortsbezeichnung „Grodno“ aber beibehalten; immerhin heißt „Grod no“ auf gut Bayrisch „Gerade noch“ – und dokumentiert so auf gestandene Art, dass die verwendete Marke, eine Bayern MiNr. 183 in Einfachfrankatur, am Tage der Abstempelung „gerade noch“ frankaturgültig war. Das Datum wurde handschriftlich vermerkt, „Bp“ ist wohl das Namenskürzel des abstempelnden Postbeamten. So gesehen ein astreiner Letzttagsbrief.

Welches bayrische Postamt diese urige Idee hatte, bleibt mangels Absenderangabe jedoch ein Geheimnis, ebenso, wie es an den Stempel der Verbindungspost gekommen war. Sollte Ihnen, liebe Leser, ein aufschlussreicheres Ganzstück mit Absender oder Einschreibezettel bekannt sein, schicken Sie uns doch einen Scan Ihres Fundstückes. Aber bitte keine Briefe mit Marken der privaten Verbindungspost Grodno schicken – das hätte uns grodno g’fehlt!