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MICHEL-Kataloge werden von Sammlern in aller Welt als zuverlässige, neutrale und extrem detaillierte Informationsquelle geschätzt. In Deutschland handelt der philatelistische Markt fast ausschließlich nach MICHEL. Die "Bibel der Sammler" hat sich diesen Ruf seit dem ersten Europa-Katalog im Jahr 1910 hart erarbeitet.

Lesen Sie hier alles zur spannenden und wechselhaften Geschichte des berühmten Briefmarkenkatalogs und zu den innovativen Neuerungen, die die Philatelie im 21. Jahrhundert prägen.

Hier folgt zunächst ein Auszug aus dem 2010 erschienenen Buch von Wolfgang Maassen (AIJP) zu namhaften deutschen Katalogherausgebern. Ab S. 5 dieses Beitrags können Sie sich zu den aktuellen Geschehnissen informieren - viel Spaß!


"Vom David zum Goliath": Von den ersten Preislisten zum Weltkatalog

Die biblische Anspielung mag nicht jedem Leser gleich verständlich erscheinen, erklärt sich aber aus der Situation vor mehr als 100 Jahren. Hugo Michel war zu dieser Zeit zwar kein namenloser Briefmarkenhändler, aber im Vergleich zu dem damals fast schon weltweit führenden Handelshaus der Gebrüder Senf eher ein „Zwerg“, eben ein kleiner unbedeutender „David“. Michel hatte am 4. April 1892 im beschaulichen Apolda sein Briefmarkengeschäft gegründet, war aber mit seinem Sortiment-, Groß- und Kommissionshandel durchaus erfolgreich. So erfolgreich, dass er es Ende 1906 seinen Brüdern Max und Heinrich Michel überließ, um sich selbst neuen Aufgaben, dem Detailhandel für Sammler und ab 1909 der erstmaligen Erstellung eines „Europa-Kataloges“ zu widmen. Über die Jahre hatte er genügend Vermögen angehäuft, das es ihm auch ermöglichte, 1909 ein ansehnliches Haus in der damaligen Elisabeth-Straße 1 in Weimar zu kaufen, wo er seitdem privat wohnte. Das Markengeschäft und sein Verlag firmierten noch für einige Jahre in Apolda.

Das Haus von Hugo Michels Vater, Johann Heinrich Michel, in dem er und seine Familie seit 1872 wohnten. Es ist heute noch mit der erst später vorgenommenen Erweiterung um ein Stockwerk in der Dornburger Straße in Apolda zu sehen. Foto: WM-Archiv/WM
 
Hugo Michel in jungen Jahren. Bildvorlage: WM-Archiv/Lothar Weißleder, Apolda
 
Mit Preislisten war Michel nicht unerfahren, hatte er doch für sein Versandgeschäft schon seit den 1890er-Jahren solche herausgegeben. Aber einen Katalog? Das war schon etwas anderes, etwas Neues. Michel nutzte Vorbilder der damaligen Zeit, die er in den Preislisten von Philipp Kosack, Berlin, aber auch in den Katalogen der Gebr. Senf, Paul Kohl und anderen fand. Von Kosack übernahm er das kleine handliche Format und die Kürze der Katalogbeschreibungen, von Senf die Nummerierung. Da Kosack seine Preislisten auch als solche verstand, und diese in der Regel auch kostenlos zu erhalten waren, Richard Senf und sein Nachfolger Heinrich Neubauer – dieser war seit dem 1. April 1910 Inhaber der Firma – Michels Katalog wohl eher als Preisliste, denn als Katalog einstuften, gab es damals keine Copyright-Probleme.

Heinrich Neubauer war seit 1910 Geschäftsinhaber der Gebrüder Senf. Mit den weltweit bekannten Senf-Katalogen standen sie in direkter Konkurrenz zu den sich seit 1915 immer mehr verbreitenden MICHEL-Katalogen. Vorlage: WM-/Archiv/RN
 
Seit 1894 war Hugo Michel Mitglied des weltweit renommierten „Internationalen Postwertzeichen-Händler-Vereins“ zu Berlin. Correspondenz-Karte vom 6. Oktober 1898. Vorlage: WM-Archiv/Lothar Weißleder, Apolda

1910 erschien der erste, heute legendäre MICHEL-Europa-Katalog im Format 12,5 x 19 cm, mit 108 Seiten und violettem Einband, gedruckt bei Rosenthal & Co., Berlin SO, Rungestraße 20. Broschiert kostete er 0,60 Mk. und 10 Pfennig Porto, gebunden 1 Mk. und 20 Pfennig Porto (Auslandsporto 20 resp. 30 Pfennig). Der Katalog war billig, zumal auch Hugo Michel ihn vorerst seinen Kunden kostenlos zuschickte. Eine Nota (Rechnung) lag zwar bei, wurde aber in aller Regel nicht bezahlt. Wohl kaum einer stufte damals diese „Preisliste“ als „Katalog“ ein. Ein Fehler, wie sich noch herausstellen sollte.

Michel lag mit seinem Katalogansatz richtig. Er bediente damit die „kleinen“ Sammler, diejenigen, denen die umfangreichen und damit auch entsprechend aufwändigen Welt-Kataloge der Gebr. Senf zu teuer waren, aber auch diejenigen, die schon längst nur noch Europa statt „Alle-Welt“ sammelten. Deren Zahl mehrte sich von Jahr zu Jahr. Bis zum Ersten Weltkrieg nahmen die Gebr. Senf – damals ein Unternehmen mit weit mehr als 40 oder gar zeitweise 50 Mitarbeitern und riesig pompösen Geschäftslokalen in Leipzig – dies nicht ernst. Sie waren die unangefochtene Nummer 1 in Deutschland.

Die Situation änderte sich gravierend während des Ersten Weltkrieges. Michels Europa-Kataloge waren kontinuierlich jährlich erschienen, Senfs Weltkatalog erschien letztmalig 1915, dann war Funkstille. Das Personal der Senf-Firma, selbst Inhaber Heinrich Neubauer, waren eingezogen worden, die Firma lag brach, Richard Senf – längst ausgeschieden – hielt notdürftig die Hauszeitschrift, das „Illustrierte Briefmarken-Journal“, am Leben und, wenn auch stark eingeschränkt, das Markengeschäft. Die Verlage in Leipzig, davon gab es nicht wenige, kamen nicht mehr an Papier, das als kriegswichtige Ressource eingestuft und deshalb nicht in den benötigten Mengen erhältlich war. Wohl aber Hugo Michel in Apolda. Ihm gelang es, wenn auch selbst kriegsverpflichtet, Papier zu organisieren und nachts und in seiner Freizeit den Katalog weiterzuführen, so dass dieser – als einziger – weiterhin erschien. Hatten Senfs Katalogwerke vor dem Krieg Auflagen von bis zu 40 000 Exemplaren je Katalog und Michels Kataloge zu Beginn vielleicht gerade einmal zehn Prozent dieser Menge, wandelte sich nun die Situation. Seine Kataloge waren derart nachgefragt, dass die für ihn damit verbundene Arbeit ihm geradezu den Atem und jede freie Minute raubte. 1918 schien er am Ende seiner Kräfte und Möglichkeiten, wie man seinen Worten im Katalognachtrag vom Juli 1918 entnehmen kann: „Wenn ich in früheren Nachträgen wiederholt betonte, dass ich als Katalogherausgeber mit immer größeren, sich immer mehr auftürmenden Schwierigkeiten zu kämpfen hätte, so bedaure ich, den Freunden des Michel-Kataloges die Mitteilung machen zu müssen, dass die nächste (zehnte) Auflage desselben sehr wahrscheinlich die letzte während des Krieges erscheinende sein wird, und dass ich bei längerer Kriegsdauer mich gezwungen sehe, auf die billigeren Friedenslorbeeren zu warten.“

Immerhin: „David“ Hugo Michel hatte erstmals über „Goliath“, die Gebr. Senf, gesiegt, wenngleich auch vom Glück begünstigt. Aber Hugo Michel suchte Entlastung. Diese fand er 1919 im „Verlag des Schwaneberger Album Schaufuss & Stolpe GmbH“, der seit April des Jahres von dem Verlagsbuchhändler Eugen Berlin geleitet wurde.

Zuweilen ist davon zu lesen, dass Hugo Michel zu jener Zeit seinen Katalog an Hugo Schwaneberger verkauft habe, der in diesem Verlag seines Namens auch tätig gewesen sei. Dies trifft aber nicht zu. Richtig ist, dass Hugo Schwaneberger der Redakteur und Verfasser des ersten „Schwaneberger Sammelbuches“, das 1879 erstmals und zumindest bis 1883 in Leipzig bei Grimme & Trömel erschien, gewesen war. 1884 übernahm der Leipziger Verlagsbuchhändler und Druckereibesitzer Ernst Heitmann die Rechte am „Schwaneberger Sammelbuch“ und verlegte dies bis 1904. Das durchaus erfolgreiche Albensystem ging dann an die Verlagsbuchhandlung J. J. Arndt in Leipzig, fünf Jahre später an den am 15. April 1910 neu gegründeten „Verlag des Schwaneberger Album Schaufuß & Stolpe GmbH“, womit das Album – und später auch der Verlag des MICHEL-Kataloges – seinen weltbekannten Namen erhielt.
 
Hugo Schwaneberger. Foto: 1889. Vorlage: WM-Archiv/Renate Warnecke

Eugen Berlin selbst war klug genug, Hugo Michel weiterhin nach außen als redaktionell bestimmenden Herausgeber der MICHEL-Kataloge firmieren zu lassen, den Verlag also nur als Rechtsinhaber zu führen, wobei Michels Position nahezu unangetastet blieb. Er selbst hätte zu dieser Zeit auch wohl kaum die redaktionelle Kompetenz gehabt; diese musste er sich „einkaufen“ und erst einmal über die kommenden Jahre entwickeln.


Die Firma der Gebr. Senf wurde zwar auch ab 1919 wieder aktiv und stieg mit neuen Katalogwerken ein, aber der neue Verlag des Schwaneberger Albums bot nun sichtbar Paroli. Die Albumpalette wurde deutlich ausgebaut, es erschien ein neuer Katalog, „Hugo Michel’s Kriegsmarken-Katalog 1920“, und nach dem Europa-Katalog 1920 gegen Ende des Jahres sogar der erste MICHEL-Übersee-Katalog! Damit ging der Wettkampf mit der Senf-Firma in eine weitere Runde. Hugo Michel – er zeichnete als „Herausgeber“ für die Kataloge noch bis 1926 verantwortlich – hatte erneut die Senf-Katalognummern übernommen, die er selbst damals als „deutsche Standard-Nummerierung“ bezeichnete. Dieses Grundsystem wurde im Laufe der Zeit aber so verändert und ausgebaut, dass Jahre später die Sammler bei Philatelistentagen forderten, man müsse endlich zu einem einheitlichen Nummernsystem der Katalogherausgeber kommen.
 
Frühe Katalog-Nachträge aus dem „Verlag des Schwaneberger Album Schaufuss & Stolpe“ Anfang der 1920er-Jahre. Hugo Michel hatte an diesen 1910 gegründeten Verlag 1919 seine Rechte am Katalog verkauft. Vorlage: Philatelistische Bibliothek München/Foto: WM

Dazu kam es nicht, wohl aber zu zahlreichen weiteren Michel-Katalogen. Genial war Michels Idee der „Michel-Mark“ zur Zeit der Inflation 1922/23, die er als stabile Währung auf Goldmarkbasis verstand und deren Notierungen in der jeweiligen Valuta-Umrechnung sich als verlässliche Größe erwiesen. Da man bei den parallel erscheinenden Senf-Katalogen mathematische Gehirnakrobatik von prozentualen Abschlägen und gesonderten Zuschlägen, ähnlich dem System heutiger Flugtickets bei Billig-Fluganbietern leisten musste, ging auch diese Runde an Hugo Michel. Dieser blieb noch von 1926 bis 1930 als Redaktionsberater im Verlag, widmete sich aber seit 1927 zunehmend seinem Markengeschäft und – für ihn neu – eigenen Auktionen. Ab 1928 gab es MICHEL’S MONATS-MARKEN-MARKT, 36 Seiten umfassende Raritätenangebote, ab 1930 auch teils sehr umfangreiche Deutschland-Preislisten, aus denen dann Ende der 1930er-Jahre die bekannten Michels-Netto-Preislisten hervorgingen, die für sich gesehen, wiederum eher einem Deutschland-Katalog als einer Preisliste ähnelten. Zu dieser Zeit waren die jährlichen nun von Eugen Berlin selbst verantworteten Europa- und Übersee-Kataloge längst eine starke Konkurrenz für die Senf-Kataloge.
 
Mit der MINETO-Deutschland-Preisliste (MINETO = Michel-Netto) griff Hugo Michel 1940 sein ursprüngliches Anliegen der Netto-Katalog-Preise auf, indirekt zu dieser Zeit eine Kritik an den Senf- und Michel-Katalogen. Foto: WM-Archiv/WM

Auch wenn Hugo Michel 1930 nicht mehr als Redakteur am jeweiligen MICHEL-Katalog selbst beteiligt war, verkaufte er diese doch, wie seine Postkarte mit Werbezudruck vom 12. März 1931 ausweist. Bildvorlage: WM-Archiv/Lothar Weißleder, Apolda

Es war der „Verlag des Schwaneberger Albums“, der Anfang 1935 erstmals einen MICHEL-Deutschland-Spezial-Katalog herausgab. Den über 400 Seiten sehr spezialisierter Katalogisierung hatte die Firma Senf nichts nur annähernd Gleichwertiges entgegenzusetzen – deren Großdeutschland-Kataloge waren kaum mehr als eine Auskoppelung der Katalogisierung im Europa-Katalog. Vier Auflagen dieses Kataloges konnte Eugen Berlin bis 1938 erscheinen lassen, eine fünfte verhinderte der Zweite Weltkrieg und die damit verbundenen Einschränkungen. Bis 1942 erschienen die vollständigen MICHEL-Kataloge im vorgesehenen Turnus, 1943 gab es noch einmal einen Europa-Katalog, danach nur noch zwei Teilkataloge, die dank der Vermittlung von Hermann Ernst Sieger, des damaligen Leiters der Fachabteilung Briefmarken im Händlerverband in der Staatsdruckerei Wien, gedruckt werden konnten. Die Gebr. Senf hatten Vergleichbares nicht zu bieten. Die Welt der namhaften deutschen Katalogherausgeber in Leipzig lag spätestens seit dem englischen Bombenangriff am 4. Dezember 1943 in Trümmern.