"Bits and Bytes": Der Schwaneberger Verlag im Elektronik-Zeitalter
1982 trat der Sohn von Hans Hohenester sen., Hans W. Hohenester, in den Carl Gerber Verlag ein. Dies war auch die Zeit, als der computerbegeisterte Nachwuchs – der am 25. Dezember 1954 in München geborene Hans W. Hohenester durfte sich damals durchaus dazu zählen – sich für Apple, Commodore, Atari und Amiga-Computer begeisterte. 17 Jahre lang hatte Hohenester jun. verschiedene Stationen in Firmen und Tochterfirmen der Gerber-Gruppe durchlaufen, er war aber auch mit der Philatelie durch die väterliche Tätigkeit in Berührung gekommen.
So entwickelte er – als erster in Deutschland – für Commodore- und Amiga-Computer, die damals zwar noch nicht mit einem PC-Betriebssystem ausgestattet waren, von deren Überlegenheit – der Autor erinnert sich noch gut daran – dieser jedoch schon damals überzeugt war, erste Briefmarken-Verwaltungsprogramme. Mochte man im April 1983 angesichts eines in der MICHEL-Rundschau als Aprilscherz gemünzten Beitrages über einen „MICHEL-Abartensucher“ mittels eines PC-ähnlichen Gerätes noch der Meinung sein, der Verlag nähme einen auf den Arm, sprach dieser im Februar 1984 Klartext: „Btx“ hieß erst einmal das Zauberwort. Btx – man weiß dies heute kaum noch – stand für Bildschirmtext und die Seiten dieses zu jener Zeit erprobten Textdienstes waren seit September 1983 für Nutzer in Großstädten zum Nahtarif (23 Pf. für 8 bzw. 12 Minuten) abrufbar. Hans W. Hohenester hatte den Schwaneberger Verlag schon Anfang 1983 unter der Bezeichnung „MICHEL-Philatelie“ in einem damals laufenden Feldversuch der Deutschen Bundespost mit ca. 100 Bildschirmseiten untergebracht. Leser konnten auf der Btx-Seite „B*601#“ einen Neuheitendienst für die Gebiete der BRD, Berlin, DDR und Westeuropa einsehen, ebenso wertvolle Sammlertipps, natürlich auch Katalog-Infos und Hinweise zur MICHEL-Rundschau, sich aber auch bei einem Quiz betätigen.
1988 war MICHEL unter der Btx-Seite 940440 erreichbar.
Zur 5. Internationalen Briefmarkenmesse Essen vom 26.–31. Mai 1984 wurde erstmals die Präsentation eines neuen Fehl- und Bestandslistenprogramms für Heimcomputer (Commodore 64) angekündigt. Das Jubiläum „75 Jahre MICHEL-Kataloge“ war in Sicht und an dieses wurde auch schon 1984 erinnert, da Hugo Michel ja die Redaktion seines Kataloges schon im Dezember 1909 abgeschlossen hatte. Zählte Michels erster Europa-Katalog 94 Katalog- und 18 Seiten Vorwort-/Werbungsseiten in einem handlich kleinen Bändchen, waren daraus 1984 schon drei Kataloge (Deutschland, Europa-West, Europa-Ost) geworden, die immerhin die stattliche Zahl von 4000 Seiten beinhalteten. Elektronische Computerprogramme schienen schon allein deshalb damals nicht wenigen als die Lösung aller Platz- und Ressourcenprobleme.
Eine Werbeseite in der MICHEL-Rundschau 1/1986 für das neue Bestands- und Fehllistenprogramm
Dabei waren diese ersten Programme und dazugehörende MICHEL-Datei-Disketten nicht gerade billig. Die Programmdiskette für den Commodore 64 kostete 160 Mark, dazu gab es fünf Katalogdisketten (1: Deutsches Reich; 2: Gemeinschaftsausgaben, Französische Zone; 3: BRD, Berlin; 4: SBZ, DDR Teil I; 5: DDR-Teil 2) für jeweils 38 Mark, auf einer weiteren preisgleichen Katalogdiskette konnte der Nutzer 2500 MICHEL-Nummern von ihm gewünschter Länder abgespeichert erhalten. Natürlich waren diese ersten Softwareprogramme noch nicht mit dem Leistungsumfang späterer Versionen vergleichbar. Sie enthielten noch keine Abbildungen, nur Kurztexte, aber man konnte damit seine Sammlungen verwalten, über 50 verschiedene Auswahllisten drucken (mit oder ohne Preisangaben), man konnte nahezu beliebig suchen und sich auch neue Gebiete selbst zusammenstellen. Die schöne neue Welt der Computer fand ihre Freunde, bei weitem nicht nur bei der Jugend.
Bei der erwähnten Essener Messe 1986 war immer noch das C64-Programm die einzige Software, dann aber strukturierte Hans W. Hohenester das Angebot neu. Der Software gab er den Namen „MICHEL soft 2“ und zur nächstfolgenden Messe 1988 in Essen bot der Schwaneberger Verlag neu programmierte Datenbanktechnik für die Commodore-Amiga-Rechner 500, 1000 und 2000 an. Längst setzte die Konkurrenz – besonders der Phil*Creativ Verlag aus Schwalmtal – auf MS-DOS-PC-Programme, aber Hohenester erschien damals die Amiga-Reihe und deren technische Möglichkeiten vielversprechender. Im Grunde hatte er – was die Sache anging – recht, aber er hatte nicht mit der Marktmacht der von IBM begonnenen handlichen „Personal Computer“ (PC) gerechnet, die gerade in Deutschland durch preiswerte Rechner diverser Anbieter sich geradezu flächendeckend ausbreiteten. So hatte der Schwaneberger Verlag bei PC-Programmen erst einmal das Nachsehen, holte aber schnell mit eigenen zusätzlichen PC-Programmen auf und überholte die gesamte Konkurrenz, als von Microsoft die Windows-Betriebssysteme das alte MS-DOS ablösten. Mochten die Grundprogramme vielleicht nicht immer Weltspitze sein, die redaktionelle Leistung der Verlagsmitarbeiter war es – und dies entschied letztendlich und auf Dauer jeden Vergleich.
Während der 7. Internationalen Briefmarkenmesse in Essen 1988 wurde MICHELsoft 2 präsentiert.
Hans W. Hohenester blieb ein Visionär, denn er versuchte die Datenbankidee für den Verlag zu generalisieren und zu standardisieren. Ihm schwebte eine zentrale Datenbank vor, in der alle Katalognummern mit einzelnen Datensätzen hinterlegt wären, zu der dann die entsprechenden Abbildungen gehörten und – im Idealfall – der Redakteur im „Desktop Publishing“ nur noch Korrekturen und Preisveränderungen, ggf. auch Erweiterungen und ähnliches einzutragen hätte. Durchaus eine geniale Idee, allerdings zu dieser Zeit, Mitte bis Ende der 1980er-Jahre noch nicht mit damals verbreiteten Datenbanksystemen wie dbase, Clipper und anderen zu realisieren. Dafür war der Datenbestand im Schwaneberger Verlag viel zu groß und Marken noch nicht gescannt, weder die Technik noch die Manpower vorhanden.
Die Nachfolge Gerhard Webersinkes wurde mit der Einstellung von Klaus Richnow gelöst, der allerdings nur von 1994 bis 1996 Chefredakteur war. In dessen Zeit fällt der erste „MICHEL-Automatenmarken-Katalog ganze Welt“ (1994) und im gleichen Jahr der erste „MICHEL-Zeppelin- und Flugpost Spezial-Katalog“. Richnow, er wurde am 18. September 1940 in München geboren und war 34 Jahre Berufsoffizier, war 1993 in Pension gegangen, hatte die Chefredakteursaufgabe mit Feuereifer angegangen, allerdings bewirkten unüberbrückbare Differenzen mit der Geschäftsleitung eine vorzeitige Auflösung seines Vertrages. Ihm folgte 1996 Jochen Stenzke, der das Amt bis zum Juli 2008 wahrnahm.
Zu dieser Zeit, also Mitte der 1990er-Jahre, hatte der Schwaneberger Verlag die neue Hard- und Software – eine Eigenprogrammierung von Dataform – gefunden und es galt, den Bestand in die neue elektronische Datenbank einzugeben. Eine Sisyphusarbeit! Jährlich sind heute 10 000 und mehr Seiten zu bearbeiten, mehr als 500 neue anzulegen, dann der daraus entstehende Grobsatz im Satzprogramm zu überarbeiten, bis dann daraus ein Michel-Katalog oder – was seit einiger Zeit möglich ist – ein Individual-Katalog zu produzieren ist.
Auf der IBB Sindelfingen 1995 präsentiert Hans W. Hohenester die neuen elektronischen Produkte.
Hans W. Hohenester war – nach Wissen des Autors – auch der erste (der Phil*Creativ Verlag in Schwalmtal erst der zweite) philatelistische Verleger, der nicht nur im Internet vertreten war, sondern für dieses auch eine umfangreiche Konzeption entwickelte und realisieren ließ. Er sicherte sich rechtzeitig die besten Adressen, nicht nur – das versteht sich von selbst – www.michel.de, sondern auch www.briefmarken.de oder www.stamps.de, heute Adressen, die Gold wert sind, damals aber teuer jährlich zu bezahlen waren. Mit einem MICHEL-Sammler-Club, diversen Links zu Berufsphilatelisten, mit aktuellen Informationen und zusätzlichen „Features“ zählt diese Seite zum umfangreichsten und besten, was ein Verlag in Deutschland innerhalb der Philatelie zu bieten hat.
Text
Der Beitrag ist eine Kurzfassung aus dem 2010 erschienenen Buch von Wolfgang Maassen (AIJP) zu namhaften deutschen Katalogherausgebern (Band 1: Gebr. Senf – Paul Kohl; Band 2: Hugo Schwaneberger und Hugo Michel). In dieser ca. 600 Seiten starken Monografie werden alle Quellen zu den gebotenen Daten nachgewiesen, außerdem in umfangreichen Kapiteln eine vollständige Übersicht u.a. auch zu allen MICHEL-Katalogen geboten. Bestellung: Wolfgang Maassen, Sechs Linden 25, 41366 Schwalmtal.
Die MICHEL-Startseite im Internet um 2000.
2000 stellte der Phil*Creativ-Verlag aus Schwalmtal seine PC-Software ein. Sie hatte ungezählte Freunde gefunden, die gerade die Multifunktionalität der Basis-Software schätzten. Aber im Bereich der redaktionellen Kataloge konnte sie schon aus Gründen fehlender personeller Ressourcen bei weitem nicht mit dem zunehmend stärker ausgebauten Katalog-Angebot des Schwaneberger Verlages mithalten. Diesem erwuchs aber zeitgleich neue Konkurrenz aus dem Verlagshause Philotax, die – bildlich gesprochen – der alten Senf/Michel-Konkurrenz im gedruckten Katalogbereich ähnelt.
1996 hatte der Gerber Verlag die Druckereigeschäfte eingestellt. Zwei Jahre später wurde Rudolf Hinter Geschäftsführer der Firma Gerber Satz GmbH, die zuvor „Fertig Satz“ geheißen hatte. Für den Schwaneberger Verlag ging das Problem des unüberschaubaren Katalogwachstums unterdessen weiter. 1997 musste die Übersee-Reihe in zehn Teilbände aufgeteilt werden, drei Jahre später die Europa-Reihe in vier Bände, 2001 – in diesem Jahr übernahm Hans W. Hohenester die Geschäftsführung – der Deutschland-Spezial in zwei Bände. Seit 2005 erscheinen die Europa-Kataloge gar in sieben Bänden und das wird absehbar nicht das Ende der Erweiterungen sein.
Seit August 2008 ist der seit 1980 im Verlag angestellte Oskar Klan Chefredakteur, das MICHEL-Team hat sich mit Alexandra und Melanie Baumann und anderen sichtbar verjüngt. Mit neuen Mitarbeitern will der Verlag auch zum hundertjährigen Jubiläum des ersten MICHEL-Kataloges der Zukunft Paroli bieten. Sicherlich keine leichte Aufgabe, zumal angesichts depressiv stimmender Wirtschaftsentwicklungen, die auch auf die Philatelie ihren Einfluss nehmen.
Eines hat allerdings der Schwaneberger Verlag in München geschafft: Er hat aus dem Verlag des Schwaneberger Albums eine Art philatelistisches Welt-Katalogimperium geschaffen, das heute mit der großen Zahl jährlich neuer, auch fremdsprachiger Produkte keinen Vergleich in der Welt zu scheuen braucht.
Das MICHEL-Redaktionsteam