Am 9. Oktober 1980 erschien in Westberlin ein Wohlfahrtsmarkensatz zum Thema „Gefährdete Ackerwildkräuter“, der vier in Deutschland vorkommende, doch schwer zu findende Blütenpflanzen zeigt: den Strahlen-Breitsame, den Acker-Goldstern, das Sommer-Adonisröschen und eine tiefviolette, fünfstrahlige, sternförmig blühende Pflanze, die die Markeninschrift als Kleinen Frauenspiegel ausweist.

Doch die dargestellte Pflanze ist eine andere. Die zweite, in Deutschland heimische Frauenspiegelart nennt der Botaniker Legousia speculum-veneris, Venus-Frauenspiegel. Verglichen mit dem Kleinen Frauenspiegel hat er wesentlich größere Blüten doch relativ kurze Kelchblätter, die höchstens so lang wie die Kronblätter sind, diese aber nicht überragen. Betrachtet man die vierte Marke aus dem Wohlfahrtsmarkensatz genauer, erkennt man eindeutig den Venus-Frauenspiegel.

Die Westberliner 90-Pfennig-Marke vom 9. Oktober 1980 ist damit das perfekte Fundstück für eine Sammlung zu Fehldarstellungen auf Briefmarken, doch auch botanisch interessierte Motivsammler werden von dieser liebenswerten Ungenauigkeit und der graphischen Schönheit der Marke bezaubert sein.

Der Venus-Frauenspiegel ist in Deutschland als „stark gefährdet“ eingestuft; er kommt nur im Westen und Süden vor und auch da nur zerstreut. Um ihn in seiner natürlichen Umgebung zu sehen, braucht man also schon etwas Finderglück. Doch auch in der Philatelie ist es nicht ganz leicht, Fundstücke wie dieses zu entdecken.

Eine gute Hilfestellung leistet in dieser Hinsicht die jüngst erschienene Neuauflage des MICHEL Deutschland 2021/2022, denn dort findet der Briefmarken- und Pflanzensammler erstmals eine komplette, alle Sammelgebiete umfassende Überarbeitung der Pflanzenidentifikation und -Nomenklatur deutscher Postwertzeichen nach dem neuesten botanischen Forschungsstand mit expliziten Hinweisen auf Fehlbestimmungen und Falschdarstellungen.

Übrigens ist man auch in der Bundesrepublik schon über die Botanik gestolpert. So im Jahr 1991 mit einem fünf Werte umfassenden Satz zum Thema Natur- und Umweltschutz, der Pflanzen aus dem Rennsteiggarten bei Oberhof zeigt.

Hier begegnen wir dem Schweizer Mannsschild, Wulfens Primel, der Preiselbeere, dem Alpen-Edelweiß – und dem Sommerenzian? Laut Markeninschrift ja, doch der Sommerenzian (Gentiana septemfida) hat weit auseinanderstehende Kronblätter mit bezeichnenden Fransen. So sieht die dargestellte Pflanze nicht aus. Vielmehr portraitiert die Zeichnung den Kochschen Enzian, den der Botaniker Gentiana acaulis nennt.

Der Kochsche Enzian ist bedroht durch Überdüngung und steht in Deutschland unter Naturschutz wie übrigens auch der Sommerenzian und alle anderen Enzianarten. Im aktuellen MICHEL Deutschland weist eine Fußnote auf die Verwechslung der beiden Arten hin.

In vielen Fällen wurde die Bestimmung der Pflanzen auch differenziert. So zeichnet der 40-Pfennig-Wert der Westberliner Ackerwildkräuter die schöne weiße Dolde mit den großen Kron- und feingefiederten Laubblättern als Breitsame aus – dies ist jedoch der Trivialname. Botanisch genau ist die Bezeichnung „Strahlen-Breitsame“ (Orlaya grandiflora). Leider sind die deutschen Bestände der Pflanze so gut wie erloschen. Ein nennenswerter Bestand unter der Burg Hellenstein in Heidenheim brachte dem Strahlen-Breitsame einen weiteren malerischen Namen ein: „Heidenheimer Schlossblume“. Wer weiß, ob wir die Pflanze jemals in der Natur sehen werden. Hier kommt der Briefmarke die wichtige Aufgabe zu, an sie zu erinnern und uns zu ermahnen, sie zu bewahren.

Die Behauptung mag ein wenig kühn sein, dass Pflanzen-Motivsammler sich auch für Märchen interessieren, doch in erstaunlich vielen Volks- und Kunstmärchen spielen Pflanzen eine entscheidende Rolle. Man denke an das Ziegen-Bäumchen aus „Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein“, an die erlösende Traumblume aus „Jorinde und Joringel“ und natürlich an Gerdas und Kays Rosen aus der „Schneekönigin“.

Im neuen MICHEL Deutschland erhalten Märchen-Motivsammler eine weit detailliertere Darstellung bekannter und weniger vertrauter Märchen als bisher: Die Bildunterschriften zu den Märchen-Ausgaben der deutschen Sammelgebiete wurden erheblich erweitert und ergänzt und laden ein, die Texte der Brüder Grimm, Hans Christian Andersens oder Aleksandr Puschkins neu zu lesen.

Doch auch Ländersammlern bietet der MICHEL Deutschland 2021/2022 eine Fülle wertvoller neuer Informationen, sei es zu seltenen Wasserzeichenvarianten der deutschen Seepost oder zu neuen Zeichnungstypen des Sudetenlandes, zu Rastertypen der jüngsten Markenausgaben der Bundesrepublik oder zu privaten Befreiungsaufdrucken durch Angehörige der französischen Besatzungsmacht auf Marken des Deutschen Reiches in den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges. Weiter findet der produktionstechnisch interessierte Sammler neue erläuternde Einleitungen zu den Automatenmarken Berlins und der BRD mit Abbildungen der verwendeten Automatentypen sowie ergänzte und detaillierte Angaben zu den Entwerfern und Stechern früher bundesdeutscher Postwertzeichenausgaben. Ein besonderes Highlight stellt freilich die Publikation der Auflagezahlen der Deutschen Post AG dar, auf die Sammler seit nunmehr 16 Jahren warten: Der Deutschland 2021/2022 präsentiert die Auflagen der Sonderpostwertzeichen der BRD seit 2013 inklusive der Ersttagsblätter und Markenheftchen sowie der Blumen- Freimarkenserie seit 2005 bis Ende 2020. Also schon wieder Blumen!

Die markantesten Preisänderungen der diesjährigen Bearbeitung ergaben sich in den Sammelgebieten Altdeutschland, Deutsches Reich – Germania-Markenheftchen, Besetzung im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Sudetenland, Lokalausgaben ab 1945, SBZ – Postmeistertrennungen und Französische Zone mit teils verfünffachten Preisen. Natürlich sind Zahlen ein wenig profaner als Märchen, doch sprechen sie ihre eigene, interessante Sprache und zeigen uns, wo die Investitionsmöglichkeiten bei unserem Hobby liegen.

Alle Neuheiten aus der MICHEL-Redaktion erfahren Sie in der MICHEL-Rundschau, der monatlichen Fachzeitschrift für Philatelie und Numismatik.